Stellungnahme der DIGAB e.V. zum Entwurf „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG)

Stellungnahme der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) e.V. vom 11.6.2020 zum „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG)“

Als Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) e.V. nehmen wir Stellung zum neuen Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG) in der Fassung BT-DS 19/19368 vom 20.05.2020, mit Stellungnahme des Bundesrats und Zurückweisung der Bundesregierung, 1. Lesung vom 27.05.20.

Wir müssen feststellen, dass sich in den wesentlichen Punkten in diesem neuen Gesetzentwurf keine Verbesserung, insbesondere für die außerklinische Patientenversorgung, ergeben hat. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unsere Stellungnahme zum sog. RISG vom 6. September 2019 sowie unsere Stellungnahme zu der ersten Version des GKV-IPReG vom 08.01.2020, die in diese neue Stellungnahme bis auf wenige Ergänzungen übernommen wird.

Genehmigungsverfahren der Außerklinischen Intensivpflege

Es wird festgelegt, dass die Indikationsstellung und Verordnung nur durch – auf diesen Bereich spezialisierte – Ärzte zu erfolgen hat. Diese Verordnung beinhaltet auch, dass der Fachexperte die Versorgungsform und damit den Ort der Versorgung, unter Berücksichtigung der medizinischen und sozialen Gegebenheiten, in Absprache mit dem Betroffenen und/oder den Angehörigen festlegt. Im Anschluss soll eine Beratung durch einen Krankenkassenmitarbeiter erfolgen: „Nach Satz 4 obliegt die Feststellung, ob die Voraussetzungen für eine intensivpflegerische Versorgung am gewünschten Leistungsort vorliegen, der Krankenkasse. Die Krankenkasse hat dabei in jedem Fall den Medizinischen Dienst (MD) mit einer Begutachtung zu beauftragen (vgl. § 275 Absatz 2)“.

Wir sollen also zukünftig die Situation haben, dass von hochspezialisierten Experten die Indikation für die Versorgungsform des Betroffenen gestellt wird, anschließend eine Beratung durch einen Krankenkassenmitarbeiter erfolgt sowie eine Begutachtung (der Expertenentscheidung) durch den MD. Hierbei treten mehrere Probleme auf:

  1. Es gibt Qualifikationserfordernisse für den ärztlichen Fachexperten, aber keinerlei Vorgaben für die fachliche und klinische Qualifikation sowie Erfahrung weder für die Krankenkassenmitarbeiter noch für den ärztlichen Mitarbeiter des MD. Aktuell haben wir die Situation, dass regelmäßig ärztliche MD-Mitarbeiter mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen (z.B. Facharzt für Gynäkologie, Unfallchirurgie, Allgemeinmedizin, Augenheilkunde) die Begutachtungen der Betroffenen vor Ort durchführen. Die Qualifikation der Krankenkassenmitarbeiter, die die Beratungen durchführen, ist ebenfalls nicht festgelegt. Aktuell sind dies meist Gesundheits- und Krankenpfleger, möglicherweise mit einer Zusatzweiterbildung in Anästhesie- und Intensivpflege, aber in den seltensten Fällen mit ausreichender Erfahrung in außerklinischer Intensivversorgung, die sich erheblich von der innerklinischen Versorgung unterscheidet. Der MD/die Krankenkasse sticht also die Indikationsstellung und Einschätzung des neutralen Fachexperten, der letztendlich für die medizinisch fach- und patientengerechte Überleitung verantwortlich ist (Rahmenvertrag Entlassmanagement 12/2018). Dies ist ein vergleichsweise einmaliger Vorgang.

Zum Vergleich: Bei der Konstruktion und Neuzulassung eines Autos gibt es ein präzise festgelegtes behördliches Zulassungsverfahren, bevor dieses im Straßenverkehr zugelassen wird. Hierbei gibt es keine Vorgaben zur Qualifikation des Konstrukteurs, aber sehr wohl zu dem Fachexperten, der die Prüfung durchführt und das Auto für den Verkehr freigibt. Dies ist mit Sicherheit ein Experte/Ingenieur für Kraftfahrzeugtechnik und nicht etwa ein Experte/Ingenieur für Flugzeug- oder Schifffahrtstechnik. Es ist schwer nachvollziehbar, aber ist das richtig und gewollt, dass wir genau umgekehrte Verhältnisse in der medizinischen Versorgung schwerstkranker Menschen haben?

  1. Die Beratung und letztendliche Feststellung der Voraussetzung für die Entscheidung bzgl. Der passenden Versorgungsform liegt nicht in neutraler Hand, sondern bei dem Kostenträger, d.h. bei der Stelle, die die entstehenden Kosten übernehmen muss. Auf diesem Weg kommt es zu einer drastischen Umkehr einer möglichen Fehlanreizsituation. Schon jetzt erfolgt durch einige Kostenträger eine zusätzliche Beratung von Betroffenen und Angehörigen. Aus der Erfahrung von Expertenzentren lässt sich schon heute sagen, dass in einigen Fällen eine eindeutig finanziell motivierte Beratung im Sinne eines „Drängens“ in Richtung stationärer Versorgung in einer Pflegeeinrichtung erfolgt, obwohl dort die adäquaten Voraussetzungen für den individuellen Betroffenen nicht erfüllt werden können.
  2. Als hauptsächliche Entscheidungsgrundlage wird vor allem der Ort der Versorgung genannt. Hierbei müssen unserer Überzeugung nach auch medizinische, soziale, ethisch-moralische sowie psychische Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Noch problematischer wird es, wenn, wie unter Punkt 1. und 2. aufgeführt, die medizinischen Belange aufgrund fehlender Fachexpertise nicht hinreichend beurteilt werden können und die Beurteilung von demjenigen erfolgt, der in der Bringschuld ist.

In diesem Zusammenhang ist die Vorgabe, dass die Überleitung/Entlassung über ein Experten-zentrum erfolgen sollte oder in die Überleitung zumindest ein Fachexperte für außerklinische Beatmung einbezogen und die Betroffenen an ein Zentrum angebunden werden sollen, als durchaus positiv zu bewerten. Entsprechende Vorgaben für die Überleitung und Entlassung sind zum Beispiel bereits jetzt Teil der Zertifizierungskriterien für Weaningzentren der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP).

Weaning, Dekanülierung und Überleitung in die außerklinische Intensivpflege

Die entscheidende Maßnahme, um dem Ziel des Referentenentwurfes und des GKV-IPReG gerecht zu werden, ist die Verbesserung und Stärkung der Strukturen für eine effektive Entwöhnung von der invasiven Langzeitbeatmung bzw. die Dekanülierung. In diesem Fall ist in der Regel keine außerklinische Intensivpflege mehr notwendig. Diese Maßnahme betrifft allerdings nur den Teil der Betroffenen, die auf dem Boden einer akuten Verschlechterung ihrer Grunderkrankungen, z.B. im Rahmen einer Operation, beatmungspflichtig geworden sind und trotz aller intensivmedizinischer Expertise nicht von der Beatmung entwöhnt bzw. nicht dekanüliert werden können. In besonders auf die Beatmungsentwöhnung spezialisierten intensivmedizinischen Einheiten (Weaningzentren) ist es in vielen Fällen möglich, doch noch eine Entwöhnung vom Respirator (Weaning) zu erreichen. Insofern ist es sehr zu begrüßen, wie im Referentenentwurf und auch im IPReG vorgesehen, diese Einrichtungen als Teil des intensivmedizinischen Behandlungsprozesses zu stärken und die Verlegung in einen solchen Bereich bei gegebener Indikation zu fördern.

Es sei aber an dieser Stelle noch einmal deutlich darauf hingewiesen, dass Patienten mit einer dauerhaft notwendigen Beatmungstherapie, z.B. auf dem Boden einer neuromuskulären Erkrankung, von dieser Problematik unberührt sind und auf keinen Fall zusammen mit den „Weaningpatienten“ in einen „Topf geworfen“ werden dürfen. Sie benötigen eine adäquate, vor allem aber langfristige außerklinische Versorgung unter Berücksichtigung der individuell möglichen Lebensqualität.

Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden sich ausführlich unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf der Bundesregierung vom 8. Januar 2020.

Finanzierung der außerklinischen Intensivpflege

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Finanzierung einer Versorgung mit außerklinischer Intensivpflege in einer stationären Pflegeeinrichtung auf eine gerechtere Ebene gebracht wird und der Finanzierung der ambulanten Versorgung angeglichen wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass aktuell in der stationären Pflege mit einem niedrigeren Pflegeschlüssel und anderen Qualifikations-vorgaben gearbeitet wird (1:6 bis 1:10), worauf die geringeren Kosten gegenüber den Intensiv-Wohngemeinschaften im Wesentlichen zurückzuführen sind. Eine Versorgung für ca. 7000,- Euro versus ca. 20 000,- Euro wäre ansonsten auf qualitativ vergleichbarer Ebene sicher nicht möglich. Sollen die Betroffenen sicher und vergleichsweise adäquat in stationären Einrichtungen versorgt werden, so müsste die Finanzierung wirklich adäquat angepasst und nicht nur der Eigenanteil von ca. 3000,- Euro von der Krankenkasse übernommen werden. Ansonsten bleibt die Schieflage, mit einer, unter qualitativen und personellen Gesichtspunkten deutlich schlechteren Versorgung in stationären Einrichtungen, erhalten. Das ist vor allem unter dem Aspekt wichtig, dass gemäß dem Gesetzentwurf sicher mehr Betroffene in stationären Einrichtungen versorgt werden sollen.

Der DIGAB e.V. ist keine Studie bekannt, aus der schlüssig hervorgeht, dass die Versorgung in einer stationären Einrichtung qualitativ besser für außerklinisch beatmete Menschen ist. Vielmehr zeigen Untersuchungen beider Versorgungsformen, ambulant und stationär, dass die Qualität im ambulanten Bereich keinesfalls schlechter ist. Die Prüfberichte z.B. des MD, der Heimaufsichten oder der Krankenkassen sind öffentlich zugänglich. Im Rahmen der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass die Betroffenen in ihrer eigenen Häuslichkeit bzw. kleinen Wohneinheiten besser vor einer Infektion geschützt waren als in stationären Einrichtungen. Darüber hinaus ist das Risiko, dass Patienten einen neu erworbenen MRSA-Infekt erleiden, in ambulanten Einrichtungen geringer als bei der stationären Unterbringung.

Ärztliche Versorgung

Wir verweisen an dieser Stelle ausdrücklich auf unsere Stellungnahme zum „Reha- und Intensiv-pflegestärkungsgesetz – RISG“ vom 6. September 2019 zu dem Thema der ärztlichen außerklinischen Versorgung. Im aktuellen Gesetzentwurf hat sich aus Sicht der DIGAB zu den problematischen Punkten keine wesentliche Änderung ergeben. Es sind nun neben den Fachärzt*innen für Innere Medizin und Pneumologie, pädiatrische Pneumologie auch Fachärzt*innen für Anästhesiologie und Neurologie sowie Intensivmedizin für die Versorgung vorgesehen, allerdings wird auf die eigentlich notwendige spezifische fachliche Kompetenz nicht eingegangen. Neben der Facharztqualifikation, in welchem Fach auch immer, fehlt die Forderung nach Tätigkeit und Erfahrung in einem Expertenzentrum mit der Behandlung von einer entsprechend großen Zahl an Patienten mit außerklinischer Intensivversorgung und deren Begleitung im außerklinischen Krankheitsverlauf. Dies sind Anforderungen, die äquivalent für jegliche Qualifikation zum Facharzt- oder zur Zusatz-weiterbildung in jedem Bereich der klinischen Medizin gefordert werden. Ausgerechnet für die Versorgung schwerst- und komplexkranker Menschen ist dies nicht der Fall.

Wir betonen erneut, dass eine flächendeckende ärztliche Versorgung durch ausreichend qualifizierte Expert*innen allein aus dem niedergelassenen Bereich und über Ermächtigungen bundesweit nicht möglich sein wird, sodass die Vorgaben des Gesetzesentwurfs so nicht umgesetzt werden können. Aus Sicht der DIGAB ist die außerklinische Intensivversorgung für ein echtes sektorenübergreifendes Modell prädestiniert, äquivalent zur speziellen ambulanten Palliativversorgung (SAPV), mit Teams aus ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Expert*innen. Diese Teams müssen aus dem ambulanten und dem stationären Sektor (Expertenzentrum) gestellt werden können.

Da es heute oft schwer bis fast unmöglich ist, einen Facharzt – unabhängig von der Fachrichtung – für die medizinische (Mit-)Betreuung der betroffenen Menschen zu finden und in ländlichen Gegenden vielfach sogar Hausärzte fehlen, sollte die Praktikabilität der ärztlichen Verordnung (Befugnis), solange eine derartige Mangelsituation besteht, geregelt werden.

Therapeutische Versorgung

Für eine erfolgreiche außerklinische Versorgung, insbesondere im Hinblick auf eine klinische Stabilisierung und Besserung der Betroffenen, ist eine strukturierte und qualifizierte therapeutische Versorgung unabdingbar. Aktuell bestehen keinerlei Vorgaben oder auch Möglichkeiten für die Qualifizierung von außerklinisch tätigen Therapeut*innen aus dem logopädischen, physiothera-peutischen oder ergotherapeutischen Bereich in der spezifischen Versorgung außerklinisch invasiv beatmeter Patienten oder Träger von Trachealkanülen. Ebenso fehlen eindeutige Regelungen für die Durchführung und adäquate Finanzierung dieser essentiellen Therapien. Ein Gesetzentwurf zur Versorgung von Betroffenen mit außerklinischer Intensivpflege muss auch die Grundlagen für eine ausreichende therapeutische Versorgung in Qualität und Umfang mit allen seinen dringenden Bedarfen regeln. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die eine Chance auf eine spätere Dekanülierung haben, aber auch in gleichem Maße für alle anderen betroffenen Menschen, deren Lebensqualität sowie Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmtheit durch gezielte therapeutische Behandlungen erhöht werden können. Es ist unter diesen Aspekten aus Sicht der DIGAB nicht nachvollziehbar, dass in dem neuen Entwurf von diesem Thema keine Rede mehr ist.

Notwendige neue und alternative Versorgungsformen

Stationäre Pflege

Der Gesetzentwurf lässt eine Gruppe Betroffener mit außerklinischer Beatmung, die seit einigen Jahren kontinuierlich zunimmt, völlig außer Acht: Es ist die Gruppe von Patienten, die nach der Entwöhnung von der invasiven Langzeitbeatmung auf eine nichtinvasive Beatmung umgestellt werden kann, im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt aber noch erhebliche Hilfe und/oder Überwachung benötigt, insbesondere in der Anwendung der nichtinvasiven Beatmung. Hierbei handelt es sich nicht zwingend um eine außerklinische Intensivpflege, sondern um eine andere Kategorie der Behandlungspflege, die allerdings für das Überleben der Patienten unbedingt notwendig ist. Wird keine Versorgungsstufe für diese Patienten geschaffen, fällt automatisch ein großer Teil dieser Gruppe in den Bereich der außerklinischen Intensivpflege mit einem deutlich höheren personellen und finanziellen Aufwand. Aufgrund der besonderen Relevanz dieser Patientengruppe findet diese in der neuen Leitlinie „Prolongiertes Weaning“ (Schönhofer et al.; S2k-Leitlinie „Prolongiertes Weaning“ 2019) in Form einer eigenen Weaninguntergruppe (3bII) auch eine besondere Berücksichtigung. Dieser Entwicklung sollte durch eine Regelung der pflegerischen Versorgung dieser Patienten in spezialisierten stationären Pflegeeinrichtungen Rechnung getragen werden. Diese Regelung sollte gesetzliche, finanzielle und qualitative Aspekte bundeseinheitlich umfassen.

Assistenzmodell / Laienpflege / Kombination Fach- und Laienpflege

Ein selbstbestimmtes Leben mit einer möglichst großen Teilhabe sollte das Ziel für alle Betroffenen mit außerklinischer Intensivpflege sein. Neben der häuslichen Intensivpflege und den Intensivpflege-Wohngemeinschaften haben sich Modelle der persönlichen Assistenz bewährt. Im Rahmen eines Arbeitgebermodells stellt der Betroffene seine eigenen Hilfskräfte ein, die sowohl Laien- als auch Pflegefachkräfte sein können. In jedem Fall werden die pflegenden und helfenden Personen individuell von dem Betroffenen auf dessen Bedürfnisse eingearbeitet und ausgebildet. Diese Modelle bieten in der Regel eine deutlich bessere Kontinuität und damit auch patientenbezogenes Knowhow. Es wäre fatal, wenn diese Modelle in Zukunft durch das neue Gesetz nicht mehr möglich wären. Sie gehören als Variante der Versorgung in die gesetzliche Regelung aufgenommen. In Anbetracht des eklatanten Pflegepersonalmangels müssen Versorgungsmodelle mit qualifizierter Laienpflege oder auch Kombinationen aus Laienpflege und Fachpflege entwickelt werden. Diese Optionen müssen ebenfalls eine gesetzliche und finanzielle Grundlage bekommen.

Die assistive Versorgungsmöglichkeit hat sich in der Vergangenheit sehr bewährt und sollte entsprechend berücksichtigt werden.

Selbstbestimmtheit und Teilhabe

Ein selbstbestimmtes Leben mit einer größtmöglichen Teilhabe führen zu können, gilt für jeden Menschen und ist in Deutschland gesetzlich festgelegt. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung ist nicht an körperliche, insbesondere motorische Fähigkeiten gebunden. Fehlt allerdings die kognitive Leistungsfähigkeit zur Selbstbestimmung, so muss hier gesondert über die individuelle Situation nachgedacht werden. Fraglich erscheint eine Selbstbestimmung, wenn jegliche Entscheidungen ausschließlich von einer anderen Person getroffen werden. Der Begriff der Teilhabe ist wesentlich weiter gefasst und schwieriger einzugrenzen. Seine Definition umfasst ethisch-moralische, gesell-schaftliche, soziale, psychisch-geistige und medizinische Aspekte, die wiederum einen weiten Raum für unterschiedliche Ansichten offenlässt.

Diese schwierigen, aber für die Betroffenen immens wichtigen Punkte, nicht genau zu definieren und die letztendliche Interpretation im Einzelfall den Kostenträgern und dem MD zu überlassen, kommt keiner Verbesserung der Versorgung, sondern einer Auslieferung der Betroffenen an die genannten Institutionen gleich. Hier ist der Gesetzgeber in der Pflicht, zum Schutz der Betroffenen, aber auch im Sinne des Gesundheitssystems sowie letztendlich des gesamtgesellschaftlichen Wohls, für eine klarere Eingrenzung und Festlegung der Entscheidungskriterien zu sorgen.

Ein Ansatz wäre hierbei auch die Frage, an welchem Ort die betroffene Person leben würde, hätte sie ihre zu der außerklinischen Intensivversorgung/Beatmung führende Erkrankung nicht.

Hierzu zwei Beispiele:

  • Ein an Muskeldystrophie leidender junger Mann mit einer nahezu komplett bestehenden motorischen Einschränkung aller Extremitäten, aber ohne jegliche kognitive Einschränkung, würde ohne die Muskeldystrophie eine Schulausbildung, dann eine Berufsausbildung absolvieren und einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Das gleiche selbstbestimmte Leben kann er trotz der Erkrankung mit der entsprechenden Pflege und/oder Assistenz führen. Dies gilt in gleicher Weise für alle neuromuskulären oder Motoneuron Erkrankungen ohne kognitive Einschränkungen.
  • Ein 85-jähriger Mensch mit multimorbider Erkrankung z.B. nach Schlaganfall mit verbleibender Halbseitenlähmung, Herzinfarkt, mit einer Nierenschwäche und einer beginnenden Demenz liegt aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit in einem Pflegeheim. Im Rahmen einer Lungenentzündung muss er akut auf einer Intensivstation künstlich beatmet werden. Die Beatmung mündet in eine Langzeitbeatmung. Im Anschluss muss eine Trachealkanüle verbleiben. In diesem Moment hat der Patient ein Anrecht auf eine außerklinische Intensivpflege entweder in Form einer 1:1-Pflege in häuslicher Umgebung oder in einer Intensivpflege-Wohngemeinschaft. Der Patient geht in der Regel nicht wieder zurück ins Pflegeheim. Grundsätzlich ist es der Wunsch der meisten Menschen, bei hoher Pflege- oder Betreuungsnotwendigkeit in häuslicher Umgebung versorgt zu werden. Dies wäre in der Regel durch eine 1:1-Betreuung auch möglich, z.B. bei einer Demenz. Wer würde auf die Idee kommen, somit für Demenzerkrankte eine 1:1-Versorgung zu fordern? Dies wäre zwar eine ideale Situation für die Betroffenen, aber undenkbar in Anbetracht der Kosten und inzwischen auch des Mangels an Pflegekräften. Es muss ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden, nach welchen Kriterien die Versorgung bei der bestehenden Indikation für eine außerklinische Intensivpflege am sinnvollsten erfolgt, ohne dass das Recht auf Selbstbestimmtheit und Teilhabe verletzt wird. Weiterhin müssen weiter abgestufte Versorgungskonzepte geschaffen werden, die den Bedürfnissen der unterschiedlichen Patientengruppen gerecht werden.

Kinderversorgung

Die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe sollte klar definiert und vereinheitlicht werden, d.h. ab welchem Lebensjahr gilt ein Mensch als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener.

Fazit

Zusammenfassend halten wir als DIGAB fest, dass auch die neue Version des Referentenentwurfs seinen, im Ansatz positiven Ansprüchen und Zielen, bei Weitem nicht gerecht wird. Unter dem Gesichtspunkt einer, unter medizinischen, ethisch-moralischen, sozialen und psychischen angemessenen Versorgung, die flächendeckend sowie ausreichend sicher möglich ist, besteht noch ein erheblicher Verbesserungsbedarf.

Wir stehen zur Beratung oder Mitarbeit als unabhängige wissenschaftliche Fachgesellschaft für außerklinische Beatmung gerne zur Verfügung.

Freiburg, 11. Juni 2020

 

Für die DIGAB e.V.:

Dr. med. Martin Bachmann, Präsident
Dr. med. Bernd Schucher, Präsident-elect
Jörg Brambring, Past Präsident (komm.)
Meike Grimm, Schatzmeisterin

Stellungnahme zum Download als PDF hier.

 

Stellungnahme der DIGAB e.V. zum Entwurf „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG)